Zuordnung: Dekonstruktivistische Geschlechterforschung, Post-Feminismus
Wann: 1990
Über die Autorin:
Judith Butler gilt als eine der wichtigsten, zeitgenössischen Gender-Philosophinnen. Sie hat mit ihren Schriften unter anderem massgeblich die Queer Studies geprägt.
Hauptthesen:
In ihrem Text Das Unbehagen der Geschlechter thematisiert sie sehr viele, unterschiedliche Themen. Wir werden hier auf drei eingehen.
1. Die Kritik an der Kategorie der Frau(en) und die Universalisierung des Patriarchats
Butler kritisiert feministische Schriften, die von «den Frauen» sprechen, dabei aber oft ethnische, kulturelle, klassenspezifische Differenzen ausklammern und ein binäres System der Geschlechterbeziehung implizieren. Sprich: Butler ist gegen eine einheitliche Kategorie der Geschlechter, da sie findet, dass es keinen einheitlichen Begriff der Frau oder des Patriarchats gibt, der allen Faktoren gerecht wird. Butler ist aber nicht per se gegen die Kategorie Frau: Sie sagt einfach, dass wir nur handlungsfähig sind, wenn wir «Geschlecht» als Kategorie anerkennen und diese öffnen, beziehungsweise diskursiv veränderbar machen.
Unsere Realität ist: Wir können uns gar keinen Diskurs ohne Zweigeschlechtlichkeit vorstellen. Wir können nicht aussteigen, wir sind immer schon im Diskurs drin. Aussteigen kann man nicht, es sind bloss Verschiebungen möglich: Zum Beispiel «queer» von einem Schimpfwort zu einem positiven, selbstermächtigenden Wort zu machen.
2. Hinterfragung der Unterscheidung sex und gender.
Die Unterscheidung von sex – dem biologischen Geschlecht und gender – dem sozialen Geschlecht, war im späten 20. Jahrhundert eine Errungenschaft der Gender Studies. Butler zweifelt jedoch an dieser. Sie fragt: War sex nicht schon immer gender? Laut Butler gibt es sex nämlich nicht ‘ungegendert’: auch unsere sogenannten «biologischen Fakten» sind somit ist für Butler nicht nur gender, sondern auch sex sozial bedingt und diskursiv erzeugt.
“Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so daß sich herausstellt, dass die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist.” (s.24)
Was meint sie damit? Sie meint, dass die biologische Zweigeschlechtlichkeit nicht einfach als ‘das Natürliche’ und Gender als ‘das Kulturelle’ angesehen werden darf. Auch die biologische Geschlechtsbestimmung – sei dies hormonell, anatomisch oder genetisch – ist immer schon kulturell bestimmt. Auch aus der Biologie wissen wir, dass es eigentlich viel mehr Geschlechter gibt als nur zwei. Die Zweigeschlechtlichkeit ist also ebenfalls ein kulturelles Konstrukt, in das wir schon vor Geburt hineingezwungen werden. Dies sieht man auch daran, dass es nach wie vor so wichtig scheint, welches Geschlecht das (noch ungeborene) Baby haben wird.
3. Das Konzept der Performativität
Die Geschlechtlichkeit hat für Butler keinen ontologischen Status (das bedeutet, es ist nicht eine Frage des Seins oder Nicht-Seins), sondern wird durch Sprechakte erzeugt. Diese Vorstellung fusst in der Sprechakttheorie, nach der ein Sprechakt Wirklichkeit erzeugt. Laut Butler werden Diskurse nicht produziert; sie produzieren und konstruieren hingegen selbst Wirklichkeit und verkaufen diese als Tatsachen.
Sehen wir uns diese Theorie in einem Beispiel an:
Der biologisch begründete Mutterinstinkt wird in unserer Gesellschaft als Tatsache angesehen. Schwangerschaft und Hormone verleihen Müttern einen Instinkt, den sie in Bezug auf die Kinderbetreuung den Vätern gegenüber überlegen machen. Kommen die Leute nun von Geburt an mit solchen Aussagen in Kontakt, glauben sie, dass dem so ist und verhalten sich danach. Mädchen und Frauen orientieren sich an den jeweiligen Kategorien und übernehmen automatisch die damit verbundenen Eigenschaften. Doch was wäre, wenn in der Gesellschaft der Konsens herrschen würde, dass Männer einen Vaterinstinkt haben, Frauen jedoch keinen Mutterinstinkt?
“Wir dürfen die Geschlechtsidentität nicht als feste Identität (…) [verstehen]. Vielmehr ist sie eine Identität, die durch stilisierte Wiederholung der Akte in der Zeit konstituiert [wird]. (s. 206)
Warum der Text heute noch relevant ist:
Ihr Buch hat eingeschlagen wie eine Bombe und hat die Gender-Diskussion und die Feminismus-Diskussionen grundlegend verändert. Butler ist eine der wichtigsten Figuren in der zeitgenössischen feministischen Theorie. Ihre Theorie hat den Grundstein gelegt für ein neues Verständnis von sex und gender.
Die Diskussion um die Kategorie Frau ist nach wie vor sehr aktuell, gerade bei der erhöhten Akzeptanz und Sichtbarkeit von Trans-, Inter- oder non-binären Personen.
Was uns besonders gefällt:
Ihre hier noch nicht erwähnte Kritik an der Heteronormativität (das Normalsein des Hetero-Status’). Butler geht davon aus, dass die Menschen grundsätzlich mit einem vielfältigen Begehren zu Welt kommen, dann aber in binären, heteronormativen Strukturen geboren werden und uns somit die Vielfältigkeit der Begehren abgesprochen wird. Wir verspüren, laut Butler, eine lebenslange Melancholie, begründet auf dem Fehlen dieser Aspekte, die uns abgesprochen werden.
Was wir kritisieren:
Butlers Theorie ist teilweise abstrakt und manchmal auch schwer zu verstehen. Man muss ihre Texte vielleicht mehrmals lesen, um sie wirklich zu verstehen – und findet beim Lesen teilweise auch Widersprüche oder immer mal wieder etwas Neues. Das ist sehr spannend, eignet sich jedoch wohl nicht als ‘leichte Lektüre nebenher’.
Hinzu kommt Paradoxie ihrer Forderungen: Butler würde zwar letztlich dafür plädieren, die Kategorie «Geschlecht» zu überwinden – zu dekonstruieren. Doch wenn nicht mehr «Frau» gesagt werden kann, dann wird durch die fehlende Repräsentationsfähigkeit auch politischem Aktivismus die Grundlage entzogen. Will heissen: wenn man sich politisch nicht mehr für «Frauen» einsetzen kann, weil man sie nicht ‘in einen Topf werfen darf – wie und auf welcher Grundlage soll ich mich dann überhaupt für Frauen und Frauenrechte einsetzen können?
Quelle: Judith Butler. Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 1991.
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